4. Hanusz
Hazimiersz
Wenn Hühner fliegen könnten wie die anderen Vögel, würde ich die Flügel ausbreiten und auf geht's in die Freiheit. Ich will fliehen. Ich will weg. Weg von der Schule, weg von den Pflichten und Sorgen. Ja, weg von meinen Freunden. Und meinen Feinden. Weg von Wolfiana. Weg von ihrem Lächeln, das mir nicht mehr aus dem Kopf geht. Es ist so künstlich. So wölfisch. Und irgendwie auch faszinierend.
Aber ich will es vergessen. Das muss ich auch. Und ich könnte es nur vergessen, wenn ich fliegen könnte. Wenn ich weit weg wäre.
Hazian und Luchsa dürfen nicht erfahren, was passiert ist. Ich kann es ihnen nicht sagen. Sie hassen Wolfiana, und ich in meinem tiefsten Inneren auch. Ich weiß über Wolfiana bescheid, über sie und ihre bösen Absichten, die sie zu überspielen versucht. Es war dumm von ihr, alle Gedanken, die in ihrem Kopf waren, in ihr Kapitel zu schreiben. Natürlich habe ich es gelesen. Jetzt weiß ich, dass sie Bisoumes gefallen will. Und mir. Ich weiß jetzt, wie bösartig sie und wie gestört ihre Familie ist.
Trotzdem kann ich ihr nicht mehr ausweichen. Sie hat begriffen, dass sie mich schnell wieder weichkochen kann. Ihr spitzes Wölfinnenlächeln ist ihre Waffe. Es ist so seltsam fremdartig und hat irgendwie eine lähmende Wirkung auf mich. Klaren Verstand behalte ich durch den Ernst der Lage und meine Freunde. Immer wenn ich an Hazian und Luchsa denke, wird mein Herz von kaltem Hass auf Wolfiana umlodert. Aber Miss Kremlin kann es mit ihrer Waffe durchbohren, und dann höre ich Blut in meinen Ohren rauschen. Dieses Blut ist (in meiner Fantasie) Wasser, und es löscht das Hass-Feuer.
Ich will vor Hazian und Luchsa wegfliegen, bevor sie das auf irgendeine Weise herauskriegen! Ich will fliehen! Ich will ihnen entrinnen, bis mein Kopf leer ist und ich wieder zurückkommen kann.
Am liebsten würde ich magische Flügel haben, mit denen ich in die blutige Vergangenheit fliegen könnte. Die interessiert mich nämlich. Aber durch die Schule werde ich daran gehindert, mehr über sie in Erfahrung zu bringen. Die Grundschule hätte doch schon genügt! Das sehen viele so. Und doch werden die Gesetze mit der Schulpflicht nicht geändert und ich muss noch miterleben, wie Wolfiana ihre wahre Identität versteckt und solche Spielchen spielt. Ich finde das nicht mehr lustig.
***
Hazian ist sehr unsportlich. Körperlich ist er gar nicht begabt und es macht ihm null Spaß, Sport zu treiben. Seine Mutter hat ihn anscheinend nicht so akzeptiert, wie er war und ist. Als er 5 war, hat sie angefangen, ihm Druck zu machen. Er musste Kurse besuchen, wo andere sportliche Hasen mitgemacht haben. Weitsprung hat er am wenigsten von all diesen Kursen gemocht. Sein Weitsprung-Lehrer war ein strenger Feldhase mit langen, löffelartigen, spitzen Ohren und bereits leicht ergrautem Fell, das hat Hazian mir erzählt. Sein Vater, Hazimiersz Ohrt hatte damals eine hohe Position und wurde von seinem Job viel in Anspruch genommen. Er war mehrmals in der Woche weg, denn seine Arbeit war eigentlich in Polen und er musste dauernd Dienstreisen machen. Hazimiersz Ohrt mochte seinen Job - und seinen Sohn Hazian. Er würde gerne mehr mit ihm machen, aber immer, wenn er zu Hause war, war Hazian nicht da, denn er hatte entweder Weit oder -Hochsprung. Das Training war anstrengend und ermüdend für ihn. Wenn er abgeholt wurde, war der kleine Hazian schon todmüde und hatte zu Hause keine Lust mehr, etwas zu essen oder zu spielen - er ging dann schon sofort ins Bett. Er hatte keine Kurse an den Tagen, an denen Papa Hazimiersz weg war. Also bekam er seinen Vater praktisch nur sehr, sehr selten zu Gesicht. Aber Hazimiersz Ohrt machte bei der Arbeit einen großen Fehler. Er leitete eine Handvoll Einladungen für einen staatlichen Kongress falsch weiter, und dadurch entstand bei der Arbeit großes Chaos. Sein Chef war entrüstet. Er entwickelte von da an einen starken Hass auf Hazimiersz Ohrt und entließ ihn bei der nächsten Gelegenheit, fast grundlos. Hazimiersz kam arbeitslos nach Hause, aber weil der Job, den er gemacht hatte, sehr gut bezahlt gewesen war, reichte das Geld noch und er brauchte sich nicht sofort neu zu bewerben. Er verbrachte viel Zeit mit Hazian, aber es störte ihn, dass Hazian manchmal weg war und danach sofort ins Bett wollte. Hazians Mutter, Frau Ohrt, klärte Hazimiersz nicht ganz freiwillig über die Kurse auf. Dass Hazian nicht sportlich war und nicht gern zu den Kursen ging, ließ sie lieber weg... Aber Papa Hazimiersz fand es trotzdem heraus, denn er fragte Hazian und der erzählte ihm alles. Haziemiersz hatte immer nur das beste für seinen Sohn gewollt. Er war nicht einverstanden damit, dass Hazians Mutter den kleinen Hasen zu einer Sportskanone machen wollte, die er nicht war und nicht sein wollte. Das machte er seiner Frau auch deutlich klar. Die akzeptierte das nicht. "Was soll denn aus Hazian werden, wenn er nicht weit und hoch springen kann?", fragte sie ihn.
Das weiß ich alles von Hazian. Er hat es mir persönlich erzählt, und ich bin auf seiner Seite. Auf seiner und Hazimiersz's. Aber ich bin noch nicht fertig.
Hazimiersz Ohrt und seine Frau hatten sehr unterschiedliche Ansichten über Hazian und seine Zukunft. Das führte zu einer Auseinandersetzung, die zu einem richtigen Streit wurde. Die Stimmung im Haus der Ohrts wurde von Tag zu Tag schlechter. Hazian ahnte, dass die Trennung seiner Eltern bevorstand. Und so kam es. Sie gingen einander aus dem Weg, versuchten, Hazian vor dem jeweiligen anderen Elternteil zu verstecken, und schließlich platzte Hazimiersz der Kragen. So konnte das nicht weitergehen. An diesem Abend hörte man im ganzen Treppenhaus lautes Gebrüll und Geschrei aus der Wohnung der Ohrts. Hazian wäre am liebsten geflüchtet und hätte sich von dem Lärm und der schlimmen Stimmung befreit. Ohne von den schimpfenden, streitenden Eltern bemerkt zu werden, rannte er in den Garten und legte sich ins Gras. Er wusste, ab diesem Tag würde alles sich ändern. Und vieles würde schwieriger werden. Er traute sich nicht, wieder in die Wohnung zu laufen, solange Herr und Frau Ohrt noch weiterschrien. Und so lag er bis 23 Uhr im Gras und dachte nach. Diese Nacht schlief er im Garten, denn er schlief ein, während er im Gras lag und seine Eltern sich nicht um ihn kümmerten. Am nächsten Tag war alles bereits geregelt: Die Eltern trennten sich, und wer das Sorgerecht für Hazian übernahm, stand auch schon fest: Hazimiersz, der Vater. Er ließ nicht zu, dass Hazians Mutter wieder mit Kursen anfing, deshalb hatte er ihr klar die Meinung gesagt. Aber die Mutter würde nicht mal mehr das Wochenende mit Hazian und Hazimiersz verbringen. Sie kapselte sich völlig ab. Seitdem hatte Hazian keinen Kontakt mehr zu ihr. Hazimiersz berücksichtigte die Wünsche von Hazian. Er schickte ihn zu keinen Kursen, kaufte ihm dafür aber Bücher, die er haben wollte. Inzwischen geht Hazians Vater wieder einer Arbeit nach. Und Hazian ist mit seinem neuen Leben zeimlich zufrieden.
Die Eltern von Luchsa (Luchsuš) heißen Luchsus und Luchsina Pinslego. Zwischen ihnen ist nichts vorgefallen, und sie leben noch zusammen.
Luchsa und ich können Hazian gut verstehen.
Meine Eltern sind Hanego und Hennena Huhnski, meine kleine Schwester heißt Henna. Sie ist noch ein kleines flaumiges gelbes Küken! Stell dir das vor. Und sie ist jetzt schon stolze Erstklässlerin. Henna hat sogar schon viele Freunde!
Freundschaftsprobleme
Es ist wirklich ein Glück, dass ich Hazian und Luchsa kennengelernt hab. Die beiden sind echt gute Freunde - und vor allem: Sie verstehen mich. Sie interessieren sich auch für Geografie, Geschichte und Politik - genauso wie ich. Und sie kommen auch aus Polen, deshalb haben wir 3 eine Geheimsprache! Polnisch! Das ist super.
Gar nicht super ist, dass ich jetzt vorsichtig mit ihnen sein muss. Sie dürfen nichts über Wolfiana und mich erfahren, sonst ist die ganze Freundschaft in Luft aufgelöst. Deshalb vermeide ich die beiden jetzt lieber. Das ist wirklich ein Problem.
Ponita erfährt am besten auch nichts. Sicher ist sicher. Mit ihr mache ich sowieso nicht mehr so viel, was das deutlich einfacher macht.
Ich habe ihr Kapitel gelesen. Sie trauert der in Vergesseneheit geratenen Freundschaft hinterher. Ich habe ja auch nichts gegen sie, aber sie versteht einiges nicht! In der fünften Klasse sind die meisten Tierkinder 10, 11 oder vielleicht 12. Das ist so eine Zeit, wo Jungs und Mädchen sehr wenig miteinander zu tun haben wollen und die Jungs nur mit Jungs spielen, die Mädchen nur mit Mädchen. Ist wissenschaftlich bewiesen. Später, wenn sie älter sind, machen sie dann wieder mehr mit einander. Und in der Grundschule sowieso. Sie weiß das nicht. Außerdem versteht sie mich nicht so gut wie Hazian und Luchsa. Sie sind einfach zurzeit besser für mich geeignet! Ponita war die Grundschulzeit über meine Freundin, jetzt bin ich für Hazian und Luchsa da. Ponita hat übrigens auch andere Freunde als mich - und das sind Freundinnen - Feldmausina Feldov und Tigia Shi! Ich bin sicher, dass sie mit ihnen Spaß hat, genausoviel wie früher mit mir... Oder mehr. Zu den beiden passt sie besser als zu mir! Irgendwann merkt sie das bestimmt auch. Und vielleicht hat sie das schon. 🌝😊
Das hat Ponita geschrieben:
Ich kann sie verstehen. Vielleicht wäre sie eine gute Freundin. Wenn ich ihr helfe, wieder auf die richtige Bahn zu kommen.
Und das hat Tigia geschrieben:
Aber
was ich nicht geahnt habe, ist, dass ich doch noch eine Freundin
gefunden habe - Eine NF, New Friend; NICHT BFF, Best Fake Friend. Diesen
Begriff habe ich von Ponita, mit der ich mich angefreundet habe. Ich
sage das keinem, aber ich bin unglaublich froh darüber, endlich eine
echte Freundin zu haben.
(...)
So schnell kann das manchmal gehen. Es war übrigens Ponita, die mich angesprochen hat. Eine ganz einfache Frage. "Tigia, magst du Mathe?"
Und - schwupp - sind wir Freunde. 2 Außenseiter, die keine richtigen
Freunde haben und sich gegenseitig schon immer ziemlich sympathisch
fanden.
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