9. Die schreckliche Verabredung
"Baba! Babaaa!", schrie Wolfiana an Schulschluss über den ganzen Pausenhof, als sie ihren Vater sah.
Wolfimir Wolfimirowitsch Kremlin grunzte und verschränkte die Arme. "Was gibt's denn, dass du schon so laut lärmen musst?!", ärgerte er sich. "Schnell! Na los! Was gibt's denn jetzt?! Ich will losfahren! Hab nicht endlos Zeit! Willst du etwa, dass die anderen unser Auto sehen? Komm jetzt!"
Wolfiana machte keine Anstalten, zu ihm zu kommen. "Ja, will ich! Ich will, dass die anderen unser Auto sehen!", brüllte sie zu ihm rüber. "Ich will mich endlich mal verabreden, bei mir! Und jemand soll mitkommen und ins Auto steigen und das Auto sehen!"
Wolfimir kam auf sie zu. "Na schön, ein mal. Aber wen willst du mitnehmen? Los! Sag jetzt, wir müssen jetzt los!"
"Ich will mich mit Bisoumes verabreden! Ich will ihn ärgern!", schrie Wolfiana.
"Wer ist das, Bisoumes?! Kenn ich nicht! Geht nicht! Keine Fremden!"
"Dann eben Pumos!"
"Kenn ich auch nicht! Warum verabredest du dich nicht einfach mit Bärwan, Elchja und Tigrina? Die kennst du schon lange und mit ihnen verstehst du dich gut!"
"Nö, nicht mehr! Haben uns gestritten!"
"Jetzt denk doch mal nach! Du kannst dich nicht einfach auf Kosten deiner Eltern mit deinen besten Freunden streiten! Und hast du nicht irgendwelche Freunde aus der Schule?"
"Ja, hab ich, Tigia! Die hat aber heute Ballett!"
"Entscheide dich endlich! Ich hab nicht endlos Zeit und wenn das so weitergeht, verabredest du dich einfach gar nicht, klar? Das erspart mir 'ne Menge Mühe!"
"Wessen Eltern kennst du überhaupt? Du bist mit den Kontakten gar nicht mehr aktuell, Baba!"
"Ich kenne nur die Eltern von deinen Ex-Freunden, Ting und Taigsha Shi und Ponysław Nowak, DEN ICH HASSE!" Wolfimir nahm Wolfiana den schweren Ranzen ab und knallte ihn wütend auf den Boden, wobei ihre Tuppadosen hinauskullerten, weil Wolfiana sich nicht die Mühe gemacht hatte, den Reißverschluss in ihrem Ranzen vernünftig zu schließen. Sie sprang auf und brüllte: "Sammel das wieder ein, Baba! Und ich will mich mit Ponita verabreden, damit ich sie mobben kann! Und du musst ihren Vater anrufen!"
"Nein, das machst schön du, Wolfiana! Ich hab noch viel zu tun und bin im Stress, weil du mir ganz viel Zeit geraubt hast! Los, steig ein und räum deinen Ranzen auf!"
Am nächsten Tag fand die Verabredung nach der Schule leider tatsächlich statt.
Ponita fiel auf, dass das Kremlin'sche Auto gar kein richtiges Auto mehr war: Eher sah es aus wie ein antikes Gestell aus rostigen Metallstangen, Glas und Rädern. Das Kennzeichen war sehr schmutzig und kaum noch zu erkennen, das Lenkrad mit abgewetztem braunem Kuhleder überzogen, die Sitze aus Filz und dünnem Leinen und das durchsichtige Dach mit Guano übersät.
Während der Fahrt (die sehr holprig war und über jede Menge Hügel führte) quälte Wolfiana Ponita schon genug, in dem sie ihre Stiefel und Socken auszog und ihre stinkenden Füße mit langen, ungepflegten Krallen an den Zehen an Ponitas Nase hielt. Das war ohne Probleme möglich, da es keine Gurte zum anschnallen gab. Doch all das war bloß der Anfang. In Wolfianas Haus erwartete Ponita vieles, das sie sich gar nicht hätte vorstellen können. Alle Wände waren bemalt, beklebt und bekritzelt. Wolfiana hatte in unleserlicher, krakeliger Schrift überall "Wolfiana", "Wolfimir", "Wolfatiana", "Kremlin", "Baba" und "Mama" draufgeschrieben, und das mehrmals, immer -und immer wieder, sodass die Wände schon mit einem hässlichen, abstrakten Wörter-Krickelackrack bedeckt waren.
In allen Ecken des Hauses lagen Körner und Staub zu kleinen Häufchen zusammengekehrt, die Wolfimir laut Wolfiana am Ende der Woche alle einsammelte, um aus ihnen sein berüchtigtes "Vollkornbrot" zu backen, das eher den Namen "Eklige Fladen-Puffer" verdient hätte. Im Wohnzimmer stand ein altmodischer kastenförmiger Fernsehapparat, dessen dunkelbraune Farbe bereits abblätterte und der mit gelblichen, schmutzigen Tesafilmstreifen beklebt war. Es dauerte Minuten, bis er anging, und ungefähr jede Minute stürzte er ab, ging aus und musste neu gestartet werden.
Die mit Spinnweben behangenen Holzbalken an der Zimmerdecke sahen in Ponitas verwöhntem Auge modrig und instabil aus. An der Wand über dem speckigen, harten Sofa hingen an rostbraunen, krummen Nägeln verblichene Schwarz-Weiß-Fotos von unfreundlich aussehenden Wölfen, die vermutlich die Vorfahren von Wolfiana waren und fast alle miesepetrig dreinschauten. Eigentlich alle bis auf eine einzige Wölfin, die künstlich lächelte. Sie hatte verlängerte Wimpern und Kunstnägel an den Fingern - was sie nicht sympathischer machte, im Gegenteil. Ponita hoffte, Wolfiana würde nie so aussehen wie sie, denn sie erkannte sofort, dass diese Wölfin darauf aus gewesen war, anderen zu gefallen. Eine andere Wölfin (die nicht lächelte) sah sehr müde und ausgelaugt aus. Sie hatte die Form eines Kartoffelsacks und die Arme verschränkt. Die dritte Wölfin, von der es ein Foto gab, hatte einen gestressten Gesichtsausdruck und trug ein Kopftuch und einen Kittel. Sie war dabei, eine Maschine zu betätigen. Im Hintergrund standen noch andere arbeitende Wölfinnen, die genau die gleiche Kleidung trugen wie sie. Auf dem Rahmen stand in einer unordentlichen Handschrift geschrieben: Die Genossin Wolfia Eisesnewin. Auf dem Rest der Fotos waren männliche Wölfe zu sehen. Das, das am neusten aussah, war von einem Wolf, der Wolfianas Vater sehr ähnlich sah. Er hatte einen dichten Schnurrbart, eine große, schwarze Nase, lange möhrenförmige Ohren, gepflegte Augenbrauen und einen eiskalten Blick. Er trug eine abgewetzte Uniform und hatte eine Medaille um den Hals hängen. Wolfimir Wolfijitsch Kremlin, stand unter dem Foto auf dem Rahmen. Ein anderer Wolf mit einer Narbe, einem gefährlichen Blitzen in den Augen und mürrischem Gesichtsausdruck hatte einen nicht beschrifteten Rahmen aus Holz. Er trug ein schmutziges Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln und einem dunklen Fleck, wahrscheinlich einem Blutfleck. Er hatte sich das Hemd in die Hose gestopft und sein Gürtel, andem ein Knüppel und eine Pistole befestigt waren, war sichtbar. Er schien ein kaputtes kleines schäbiges Haus in einer unwirtlichen Gegend zu bewachen. Ein dritter hatte ein sehr schmales Gesicht mit hohen Wangenknochen, ein schütteres Ziegenbärtchen und lange Krallen. Mit seinen Pfoten hielt er ein Gewehr fest.
Jedenfalls war Ponita mehr als froh, als die Verabredung endlich vorbei war. Sie hatte so viele neue (negative) Eindrücke wahrgenommen, dass sie nur noch nach Hause wollte, um die gewohnten Dinge zu sehen. Jetzt hatte sie ein neues Bild von Wolfiana und ihrem Haus - und ein positives war es nicht gerade.
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