3. Bisoumes & Wolfiana
Bisoumes
Wolfiana, Tigia und Co.: Meine Meinung
Tigia hat gelogen. Sie hat nämlich gesagt: Keiner weiß das, aber: Bisoumes hasst mich schon seit dem ersten Tag in der Grundschule, genauso doll wie jetzt. Das stimmt aber nicht. Sie ist bloß total pessimistisch - dadurch, dass sie's abstreitet, nur umso mehr!!! - und dazu voll die Lügnerin und Petze. In der ersten und zweiten Klasse hatte ich noch keinen Hass auf sie, sondern auf Wolfiana. Damals war ich noch voll UNCOOL und gar nicht ich selbst. Inzwischen hab ich kapiert, dass Wolfiana eigentlich richtig GEIL ist. Wir beide sind uns nämlich vom Wesen her ziemlich ähnlich, ist mir aufgefallen. Wolfiana hat neulich 'ne ULTRAKRASSE Ausstrahlung und durch sie werde ich arg beliebter.
Dir ist sicher aufgefallen, dass ich alle Slang-Wörter großschreibe. Das soll betonen, dass ich nicht nur cool rede, sondern auch denke und schreibe!!! Im Gegensatz zu Tigia, ha! Ponita und Tigia sind jetzt Freunde. Pah. Als ob das so bleiben wird. SAFE, die machen das nur, weil die beide keine Freunde haben. Eigentlich verstehen sie sich mega schlecht und konnten sich gegenseitig noch nie ausstehen. Ponita kann Tigia in Wahrheit überhaupt nicht ab.
Wolfiana hat mir alles über ihre Fake-Friendship mit Tigia erzählt. CRINGE, ey! Ehrlich! Tigia kann sich gar nicht wehren und will's auch gar nicht! Und Wolfiana ist echt asozial. Was ich irgendwie stark finde. Traut sich halt nicht jeder. Tigia zum Beispiel nicht. Sie tut zwar so TRENDY, aber eigentlich ist sie voll OUT.
Früher fand ich Wolfiana STRANGE, und hab sie gehasst, gerade weil sie so ASI und AGGRO war. Aber jetzt finde ich das super, weil das halt irgendwie cool ist und das ist ein Vorteil für mich, denn mein Ziel ist ja, meinen Klassencoolster-Status aufrechtzuerhalten, um Tigia zu nerven.
Pumos ist eindeutig auf meiner und Wolfianas Seite. Er kauft ihre Soße und seine Brotbox gehört mir. Sage ich jedenfalls. Die Bisoumes-Brotbox, die eigentlich Pumos' Eigentum ist. Aber er lässt sich das gefallen, solange er seine Soße von Wolfiana kriegt und durch mich cooler wird. Nicht sehr willensstark, sag ich dir. Muss er aber auch nicht sein. Ist viel besser und einfacher für mich, wenn er einfach nur anhänglich ist, und nicht eigensinnig. Vielleicht noch'n bisschen abhängig. Juckt doch keinen.
😝 🦬 🐺🐈
Ich bin gerade zu Hause in meinem Zimmer auf meinem Stuhl vor meinem Tisch über das Klassenfoto gebeugt. Jetzt beschreibe ich dir mal meine ganzen Klassenkameraden, die gerade ihre neuen Schuluniformen angezogen haben. (Ich hab auch eine an, schlimm für meinen coolen Status!)
Vorne stehen Ponita, Hanusz und Feldmausina. Quereinsteigerin. Scheint nicht so viel Geld und irgendwas gegen Wolfiana zu haben. Ist 'ne Feldmaus. Die nehm' ich mir später noch mal vor, denn wer Wolfiana gefährdet, gefährdet auch mich und meine COOLNESS!!! Ich werde allen auf die Nase binden, dass Feldmausina alle Streite mit Wolfiana anfängt, auch wenn ich weiß dass das nicht stimmt und eine dreiste Lüge ist, aber das ist mir egal, denn meine Coolness ist durch diese mickrige Feldmaus in Gefahr und könnte ins Wanken kommen, und das muss ich mit allen Mitteln verhindern! Wolfiana streitet auch längst ab, die Streite mit Feldmausina anzufangen. Gut von ihr. Ist nützlich für mich. Pumos ist auch gegen Feldmausina und für uns. Emma ist neutral. Tigia beschäftigt sich nicht mit sowas. Der Rest ist für Feldmausina. Also Ponita und Hanusz und die Lehrer Hasinde Hüpfer und Bäriko Brumm. Und Swana Quakens und Zebras Streif und so weiter.
Ponita hat eine blonde Mähne und braunes Fell, Hanusz ist ein mickriger hellbrauner Hahn mit rotem Hahnenkamm und Kehllappen, ohne Muskeln, aber dafür viel Hirn, das er nicht für's Büffeln verwendet, was ich unschlau finde. Pumos hat schon Bartflaum und sieht auf dem Foto sehr grimmig aus. Neben ihm stehe ich, und daneben Wolfiana.
Das nächste Kapitel ist von ihr.
Wolfiana
Die ganze Wahrheit:
Warum ich alles hasse
Manchmal hab ich das Gefühl, dass meine Eltern sich nicht mit mir beschäftigen wollen und dafür viel lieber anderes tun. Der Beweis: Sie arbeiten super lange, machen dauernd Dienstreisen und sperren mich in meinem Zimmer ein, wenn ich was mit ihnen machen will. Aber ich glaube, das bilde ich mir alles nur ein. Ich will das nicht denken. Soll ich vielleicht auch gar nicht, weil es ja wahrscheinlich nicht stimmt. Dieser Gedanke wäre zu schmerzhaft. Und zu unrealistisch. Warum hätten sie mich sonst bekommen? Viel eher denke ich, dass ihr Verhalten an mir persönlich liegt. Es kann ja sein, dass ich nicht ganz normal bin. Obwohl ich mich normal fühle. Oder ich bin zum Beispiel böse. Und das, glaube ich, stimmt wirklich! Darauf bin ich außerdem stolz! Ich bin böse. Eine böse Wölfin. Böse Leute fügen anderen Leid zu. Weil sie den Bedarf danach haben. Und den habe ich. Es gibt Sekunden, in denen das passiert. Wenn ich sehe, wie glücklich die nicht Bösen (also die Guten) sind, spüre ich, wie unglücklich ich bin, und versinke in einem tiefen Loch aus negativen Gefühlen. Dann überwältigt mich ein unendlicher Hass auf die Welt und alle anderen, vor allem auf die Guten glücklichen, deren Spaß sie nicht mit mir teilen wollen. In diesem Moment kommen sie mir vor wie Feinde. Erzfeinde. Und das sind sie ab da auch. Ich fange an, sie zu ärgern, zu mobben, zu verprügeln oder auszulachen, damit sie keinen Spaß mehr haben und dieser glückliche Spaß an mich verfällt. Aber dann spüre ich, dass mich das nicht glücklich macht. Nur schadenfroh. Und nach der Schadenfreude kommt wieder alles Negative auf mich zurück. Ich kann nicht mehr entrinnen und ich kann auch nichts ändern. Höchstens kann ich versuchen, das alles zu überspielen. So zu tun, als wäre bei mir alles tippitoppi - so, wie es bei den anderen ist. Damit die anderen mich nicht ausgrenzen, ausschließen, auslachen, ausmobben. Damit sie all das nicht tun - und bestenfalls sogar das Gegenteil tun: Mich mögen! Das ist inzwischen mein Ziel. Die anderen sollen mich mögen und ich versuche, ihnen zu gefallen und dann heimlich doch zu schaden. Ich kann nicht anders, als anderen zu schaden! Wenn ich jemanden unglücklich gemacht habe, sind ich und die Welt quitt. Denn die Welt macht mich unglücklich, und das soll sie selbst sein. Zum Glück mögen mich auch einige (zum Beispiel Bisoumes), aber das zu erreichen war schwer und hart. Ich durfte meine Agression nicht mehr vor allen zeigen, nur unter vier Augen, damit nur das Opfer davon wusste. Und dieses Opfer ist Feldmausina. Ich hasse sie, seit sie sich mit 5 Jahren gegen mich gewehrt hat. Ich habe Ponita und sie entführt, aber sie haben Widerstand geleistet und mich in die Flucht geschlagen. Ich sehe sie noch vor mir, als wäre all das nicht vor 5 - 6 Jahren, sondern erst gestern passiert. Es gibt ein Bild, das mir nie wieder aus dem Kopf gehen will: Ponita und Feldmausina Arm in Arm, unzertrennlich, ein starkes Team, die besten Freunde. Und an dieser Freundschaft durfte und konnte ich nie teilhaben. Sie waren zu gut und ich zu böse. Der Anblick der beiden hat mich sehr... verbittert und verfolgt mich jede Nacht in meinen Träumen. Mein nachtnächtlicher Albtraum beginnt immer mit diesem Bild, dann kommt Bisoumes ins Spiel und wir beide mobben die BFF, aber ich halte das nicht aus, weil mich das nicht glücklich macht, und zerstreite mich mit Bisoumes, was Tigia dann ausnutzt und versucht, die alte Fake-Freundschaft mit mir wiederaufzunehmen... Ich wache schweißgebadet und schreiend auf und realisiere, dass das alles nur ein Traum war. Das passiert jede Nacht. Und wenn ich aufgewacht bin, kann ich nicht mehr einschlafen. Dann denke ich nach und jedes Mal überkommt mich die schmerzhafte Erkenntnis, dass so eine ehrliche, beschwerdenlose Freundschaft wie die von Ponita und Feldmausina bei mir nie möglich sein wird. Denn irgendwann bekomme ich immer das Bedürfnis nach Chaos, Schaden und Rache. Und dann zerbricht die neugewonnene Freundschaft, weil ich sie zerstöre. Mein Wunsch nach Rache ist zu groß. Mein Hass und meine Unglücklichkeit sind zu stark. Manchmal frage ich mich: Ist das Selbsthass? Hasse ich mich, weil ich böse bin? Das würde ich mir so erklären: Ich selbst bin für mich alles, das ganze Universum. Ich habe das Gefühl, dass ich alles kontrollieren kann und alle Unordnung von mir ausgeht. Und weil ich Selbsthass empfinde, hasse ich alles. Ich bin alles. Ich hasse mich. Ich hasse alles. Selbsthass. Bösartigkeit. Unglücklichkeit. Alles Negative hängt zusammen. Und ich hoffe, dass niemand mich durchschaut. Dass niemand mein inneres Chaos sieht. Dass keiner davon erfährt. Dass niemand an mir zweifelt. Dass ich meine wahre zerstörte Identität überspielen kann und so tun kann, als wäre ich normal, als wäre ich nie so gewesen, wie ich mal war. Als hätte ich der Außenwelt den Taifun, der in mir tobt und mein (Selbst)bewusstsein verwüstet, nie offenbart.
Und in dem Punkt kommt Babas neuer Job dazwischen. Du kannst dich noch daran erinnern, wie ich früher war. Die Kremlins waren eine zerstörte Familie ohne Glück und Geld. Letzteres ist neuerdings vorhanden. Baba hat einen viel besseren Job und wird super bezahlt. Und ich kann alle Kosmetikartikel kaufen, um mein schmutziges, zerfetztes Wölfinnengesicht zu überschminken. Bildlich gesprochen. Das heißt: Ich kann mich hübsch machen und allen zeigen, wer ich angeblich bin. Eine reiche, schöne Wölfin aus guter Familie, die immer cool bleibt und voll trendy ist. Und das gefällt den anderen. Sie finden mich cool und mögen mich. Die einzige, die mein wahres Gesicht kennt, ist Tigia. Und dafür verabscheue ich sie. Sie war die ganze Grundschulzeit über meine Fake-Freundin. Weil sie sonst keinen hatte. Sie weiß noch, dass ich sie unterdrückt, erpresst, angeschrien, beschuldigt und in schlimme Situationen reingezogen habe. Sie weiß, was ich vorhabe. Sie kennt mich zu gut. Und sie hat eine Nase für die Emotionen von anderen. Ich kann nichts anderes machen, als meine Mobbing-Taten ihr gegenüber abzustreiten. Ich muss das tun, um cool und beliebt zu bleiben.
Plötzliche Probleme,
die keine sind
Fiuuuuht! Hasinde pfeift zum Zeichen, dass Pausenschluss ist. Ich laufe an ihr vorbei zur Garderobe, setze ein übertriebenes Lächeln auf und zeige mit meinen Krallen das Peace-Zeichen. Sie nickt mir unsicher zu und versucht, ein schiefes, verunsichertes Grinsen zustandezubringen, was sie nicht schafft. Die Lehrerin hoppelt schnell weiter. Aha. Sie hat also Angst vor mir, weil sie mich noch von früher kennt. Aber zumindest schweigt sie, wenn es um mich geht.
Wir schreiben einen Test. Ich sitze zwischen Bisoumes und Hanusz. Hanusz ist ein Superhirn, soweit ich weiß. Ich werde versuchen, bei ihm abzuschreiben.
Mist. Plan gescheitert. Er starrt mich an - oder eher, er schaut durch mich hindurch. Und er schreibt nichts auf seinen Zettel. Er lernt nicht. Außerdem würde er es wahrscheinlich sehen, wenn ich heimlich spicke. Aber ich weiß gar nichts. Beim Mathe-Unterricht habe ich nicht zugehört. Ich versuche es bei Bisoumes. Ich lehne mich zu seinem Tisch rüber, während ich so tue, als würde ich lernen. Zupfe an
der Krawatte. Warte darauf, dass er zu mir schaut. Beachte bloß nicht diesen Hanusz. Hoffentlich petzt er nicht! Falls er mich sieht. Was ich leider nicht wissen kann.
So! Jetzt ist der Moment, mit ihm Augenkontakt aufzunehmen. Bisoumes dreht den Kopf zu mir. Ich flattere mit den Augenlidern, damit er auf meine Augen aufmerksam wird. Und, weil ich das immer mache. Er mag das! Ich zeige auf mich, ihn, meine Augen und sein Blatt. Er nickt. Juhu. Ich darf abschreiben. Und das tue ich.
Den Test hab ich dank Bisoumes überstanden. Hasinde ist, glaube ich, schon misstrauisch geworden, aber eine Standpauke hat sie mir erspart. Was ich seltsam finde, ist dass Hanusz mich beobachtet hat. Jede meiner genauen Bewegungen. Gepetzt hat er aber noch nicht. Und hoffentlich tut er's auch in Zukunft nicht.
Jetzt ist Schulschluss. Ich ziehe mir die Jacke über, schultere den Rucksack und laufe auf Babas neuen roten coolen Fake-Mercedes-Benz zu.
Irgendwie fühle ich mich beobachtet.
Hanusz!
Dieser lästige kleine Hahn. Ich drehe mich um, und natürlich ist er es. Er verfolgt mich. Peinliche Sache. Ich hoffe, Baba sieht das alles nicht vom Autofenster aus. Heute ist der einzige Tag in der Woche, in der er mich abholt. Bitte, Baba, sei unvorsichtig. Pass nicht auf. Schau schön auf dein Handy.
Hanusz bleibt stehen. Er schaut mir ins Gesicht. Er rennt nicht weg. Er scheint mich nicht im Auftrag von jemandem anderen auszuspionieren. Er versteckt sich nicht. Irgendwie ist es gruselig, ihm in die Augen zu schauen. Dort steht er, ein selbstbewusster kleiner Hahn mit viel Hirn und wenig Fett. Sein Kehllappen wippt langsam auf und ab. Sein Hahnenkamm bewegt sich mit dem Wind. Seine Augen bleiben starr und regungslos. Sein Schnabel bewegt sich keinen Millimeter. Aus ihm bekomme ich bestimmt nichts raus. Er scheint nicht vorzuhaben, etwas zu sagen. Ich ebensowenig.
Hanusz starrt mich an. Sein Blick ist so seltsam und unverwandt, wie ich es bei noch niemandem anderen gesehen hab. Jetzt fängt der junge Hahn an, sich zu bewegen. Den einen Flügel schiebt er in die Hosentasche. Mit dem anderen hält er seine lange Krawatte fest, die sonst mit dem Wind flattern würde. Er blinzelt mit seinen Hühneraugen.
Brrummm! Ich höre ein Geräusch, das von etwas hinter mir kommt. Baba! Das Auto! Baba hat den Motor angeschaltet! Mist! Erst jetzt erwache ich aus meiner Starre. Ich setzte notdürftig ein übertrieben künstliches schiefes Lächeln auf, winke Hanusz zu, reiße die Autotür auf und springe rein. Mal schauen, wie ich diese Fahrt jetzt überlebe.
Ich blicke aus dem Fenster und sehe, dass Hanusz seine Krawatte loslässt und winkt. Seine Mundwinkel (wohl eher Schnabelwinkel) haben sich zwar kein bisschen verzogen, aber ich glaube, ich weiß trotzdem, was mit ihm los ist.
Ich gefalle ihm. Hanusz Huhnski, dem Hahn.
Er winkt immer noch, und seine Krawatte flattert. Er wird immer kleiner. Diesen Anblick, der sich mit meiner Erkenntnis zusammenfügt, werde ich lange nicht vergessen.